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Landmarken

Geografische Fixpunkte und mathematische Formeln bei Håkan Nesser

Siebzehn Romane umfasst Håkan Nessers literarisches Œuvre mittlerweile. Die zeitliche Spanne reicht dabei von den 1960ern Jahren in den so genannten Närke-Romanen "Kim Novak" und "Piccadilly Circus" bis in unser neues Jahrtausend. Geografisch bewegen wir uns dabei in Europa ebenso wie in Amerika, literarisch zwischen Fiktion und Realität.

Die Vermischung von Fiktion und Realität in den Van Veeteren-Romanen sowie die Verrätselung der Realität in "Kära Agenes!", "Barins Dreieck" oder aktuell "Die Schatten und der Regen" ist dabei ebenso typisch für Nesser wie die Suche all seiner Protagonisten nach einer Determinante und einem Muster im Leben.

Dem fiktiven Maardam aus der Van Veeteren Welt steht das reale Kumla aus "Piccadilly Circus" entgegen, und in "Die Schatten und der Regen" begegnet uns die Heimatstadt des Protagonisten David verrätselt als K.-. Doch starten wir vom sehr realen Uppsala aus und treffen in K.- auf einen alten Bekannten: Barin. Barin, der uns hier als Statue am Bahnhof begrüßt, taucht auch in dem Briefroman "Kära Agnes!" auf und ist zudem Namensgeber für "Barins Dreieck".

Weitere Determinanten in Nessers Œuvre sind Gahns Möbelfabrik, der Wasserturm oder das Restaurant Vlissingen. Ein ähnliches "doppeltes Spiel" treibt Nesser in seiner Van Veeteren Reihe mit den Städten Maardam und Kaalbringen. Kaalbringen ist "in vielem ein Pendant zu Maardam. (…) Das meiste, was es in Maardam gibt, findet man auch in Kaalbringen, wenn auch in kleinerer Ausführung (…)."1 Kaalbringens Kommissar Bausen ist dabei Van Veeterens Doppelgänger, Ewa Morens Doppelgängerin in Kaalbringen heißt Beate Moerk.2

Geografische Landmarken für den joggenden Leser

So etabliert Nesser im kreativen Prozess des Schreibens Landmarken in seiner ganz persönlichen, literarischen Landschaft, die für seine (treuen) Leser als Orientierungspunkte und geografische Fixpunkte in einer verrätselten literarischen wie realen Welt fungieren können. Der Leser bewegt sich dabei frei wie ein Jogger3 - ebenfalls ein wiederkehrendes literarisches Muster bei Nesser - zwischen den verschiedenen Büchern und Romanwelten: "Es ist der lesende Jogger oder der joggende Leser, der weiß, dass man jederzeit im Vlissingen vorbeischauen und sich dort ein Glas genehmigen kann, ganz gleich, ob es sich nun um Maardam handelt (Der Tote vom Strand), um A. (Rein in Barins Dreieck), um Weigan (Marr in Barins Dreieck) oder um Grothenburg (Die Fliege und die Ewigkeit und Liebe Agnes!) (…)Der lesende Jogger wundert sich [auch] nicht darüber, den Roman Der Teufelspakt von Van Veeterens Lieblingsautor W. Klimke im deutschen Original von 1954 in Kumla wiederzufinden (Und Piccadilly Circus liegt nicht in Kumla) ebenso wenig wie über die Tatsache, dass die Sekte "Das wahre Leben" aus Der Kommissar und das Schweigen wieder in Kumla auftaucht. Der joggende Leser spinnt ein Netz von Verknüpfungen zwischen allen Büchern von Nesser."4

Die Determinante hinter dem Muster - Nessers philosophische Landmarke

Neben diesen geografischen Landmarken und Fixpunkten existiert außerdem eine gedankliche Linie, die, kreuz und quer über alle Romane gesponnen, ein Muster ergibt - auch wenn es sich zuweilen wie Chaos ausnimmt. Dieses Muster oder besser die Suche nach der Determinante hinter dem Muster fungiert dabei gleichsam als philosophische Landmarke der Nesser'schen Gedankenwelt. Insbesondere Van Veeterens letzter Fall, der Fall G, ist von der Suche nach dem Muster oder der mathematischen Formel geprägt.5 Ständig kreisen Van Veeterens Gedanken um Zusammenhänge und Zufälle, Muster und Gleichungen. Hinzu kommt Van Veeterens Passion fürs Schachspielen, das als Motiv selbst wieder zu einer Konstanten in Nessers Œuvre und zur Determinante für die Leser wird.6 In "Die Schatten und der Regen" ist das Pendant dazu das Fermat-Rätsel, das Viktor Vinblad sich anschickt, zu lösen.

Warum die Determinanten im Leben so wichtig sind, wird in "Die Schatten und der Regen" deutlich, wo es heißt, dass jeder im Leben einen lebensgeografischen Ausgangspunkt benötigt, einen Start- und Fixpunkt, von dem aus man sein Leben bestreiten kann. Ohne diesen in Raum und Zeit fest verankerten Anfang, scheint keine Existenz möglich. Dieser "Ort", der kein real existierender ist, wohl aber in Zeit und Raum fix, ist vor allem philosophisch-religiös existentiell notwendig für das menschliche Dasein.

Nessers ironischer Gott

Diese Vision eines Musters hinter dem Chaos wurzelt im Existentialismus und ist damit an Verantwortung und Freiheit gekoppelt. Doch fordert es Selbsteinsicht und Wachsamkeit, um nicht dem Selbstbetrug zu verfallen.7 Hinzu kommen aber durchaus christlich geprägte Vorstellungen. In Van Veeterens letzter Fall tauchen immer wieder Gedanken an Erich, Van Veeterens ermordeten Sohn, auf. Van Veeteren grübelt in diesem Zusammenhang, ob die Rückkehr nach Kaalbringen, um den fünfzehn Jahr zurückliegenden Fall G zu lösen, nicht auch eine Art Bußfahrt für Erich sein könne.8 So könnte es sich um die Determinante, die sich hinter dem Muster verbirgt und häufiger als "Regisseur" bezeichnet wird,9 auch um Gott handeln. Ebenso könnte es aber auch um eine gottähnliche Schicksalsmacht gehen - oder um eine augenzwinkernde Anspielung auf den Autor selbst sein, der sich als "Regisseur" ausgedacht hat, dass Van Veeteren noch eine Runde mit G zu drehen habe.10 So ergibt sich eine am Existentialismus geschulte Philosophie, die einher geht mit "religiösem Fatalismus inklusive Erbsünde und das Böse an sich".11 In dieser Perspektive wird Gott zu einem Ironiker, der "seine Spielchen mit den Menschen spielt, eine Schachpartie mit lebenden Figuren."12

Der Mord an der Kindheit als Initiationsritus ins Erwachsenenleben

Im krassen Gegensatz dazu stehen die sommerferienhellen Närkeromane. Doch auch hier hält das Böse Einzug. Hier wie dort wird gemordet, und beide Male verweist der Mord den jugendlichen Ich-Erzähler auf sich selbst. In "Kim Novak" bleibt der Mord ungeklärt, und "[e]s ist ein Geniestreich, den Mord an der Kindheit als ungelöst zu beschreiben. Das lockt den Detektiv in uns allen hervor. Auf der Suche nach der Zeit, die verflossen ist (…)."13 In "Piccadilly Circus" wird - wenn auch erst nach 35 Jahren - der Mord aufgeklärt, aber deutlich wird auch, dass mit dem Mord das Ende der Kindheit initiiert wird. Der Mord ist das Ereignis, das den 17jährigen Mauritz von seiner Jugendliebe Signhild trennt, was erst in der Retrospektive deutlich wird. Auch für die Protagonisten in "Die Schatten und der Regen" wird der Mord an Sara Salmodin zum einschneidenden Ereignis, das ihr Leben verändert und zum Scheideweg, an dem sich ihre Wege ins Erwachsenenleben endgültig trennen. Der Schmerz, der der (gewaltsame) Tod eines Menschen hervorruft, ist dem Schmerz ähnlich, den man als Erwachsener spürt, wenn man sich fragt, wo die Zeit geblieben ist und wenn ein Film Sturzbäche an Tränen hervorrufen kann, weil man anfängt zu ahnen, was man alles verpasst hat und dass von nun an die Lebenszeit rückwärts läuft.14

Folglich ist es nur konsequent, wenn in allen drei Romanen, den Närkeromanen und "Die Schatten und der Regen", die Morde erst Jahrzehnte später aufgeklärt werden und wenn dies nur geschieht, indem einer der Protagonisten und Hauptverdächtigen das Geheimnis des Mordes und damit der verlorenen Unschuld der Kindheit preisgibt.

Quellen:

- Badete Van Veeteren jemals im See von Kumla? Ein Führer durch Håkan Nessers Romanwelt Von Eugen G. Brahms (btb, 2004)


Legende
1 Badete Van Veeteren jemals im See von Kumla? Ein Führer durch Håkan Nessers Romanwelt Von Eugen G. Brahms (btb, 2004) S.7f
2 vgl. ebd. S.12f
3 vgl. ebd. S.18f
4 vgl. ebd. S.19
5 vgl. Håkan Nesser, Sein letzter Fall. München, btb: 2004, bspw. S. 269 oder S.310
6 vgl. auch Badete Van Veeteren jemals im See von Kumla? Ein Führer durch Håkan Nessers Romanwelt Von Eugen G. Brahms (btb, 2004) S.34
7 vgl. ebd. S.11
8 vgl. Håkan Nesser, Sein letzter Fall. München, btb: 2004, S.319, S.321
9 vgl. ebd. bspw. S. 296 und S.319
10 vgl. ebd. S.296
11 Badete Van Veeteren jemals im See von Kumla? Ein Führer durch Håkan Nessers Romanwelt Von Eugen G. Brahms (btb, 2004) S.12
12 ebd.
13 ebd. S.29
14 Vgl. Håkan Nesser, Skuggorna och regnet. Albert Bonniers Förlag, 2004. S.426 (Deutsch 2005, "Die Schatten und der Regen", btb)


Interne Links zum Thema:

- Ein Rätsel wie Kanonen-Berra - Håkan Nesser Special - Einleitung

- "Viktor lebt noch immer in mir." - Exklusiv-Interview mit Håkan Nesser

- Landmarken - Geografische Fixpunkte und mathematische Formeln bei Håkan Nesser

- Exklusiv-Interview mit der Håkan Nesser-Übersetzerin Christel Hildebrandt

- "Der Schatten und der Regen" - Rezension aus der Redaktion

- "Das vierte Opfer" - Ein Nesser als Comic - Schauproben Teil 1

- "Das vierte Opfer" - Ein Nesser als Comic - Schauproben Teil 2

- "Das vierte Opfer" - Ein Nesser als Comic - Schauproben Teil 3

- Håkan Nesser Steckbrief

Externe Links zum Thema:

- Håkan Nessers neuestes Buch "Die Schatten und der Regen" direkt bestellen

- Autorenüberlick Håkan Nesser

- Håkan Nessers offizielle Website

- Håkan Nessers Vorstellung bei der Verlagsgruppe Random House

- Private Fansite über Håkan Nesser

- Håkan Nesser auf der Krimi-couch

Autorin: Alexandra Hagenguth - Literaturportal schwedenkrimi.de - Krimikultur Skandinavien, Über Feedback freuen wir uns sehr, einfach hier klicken.
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