Leseprobe
Es war ein Tag voller Sinnenfreude gewesen
- bis sie die Leiche fand.
Sie war langsam gefahren und hatte ihre Freude an der nackten Landschaft
gehabt, die sich der Sonne darbot, um zu neuem Leben zu erwachen.
An den Nordhängen des Kolmården war der Boden noch vorjahresgrau,
aber in den Tälern zeigten die Birken schon grüne Mauseöhrchen.
Während sie bergab der Ebene entgegenfuhr, sah sie Bråviken,
die weite Bucht, in der Sonne glitzern und spürte den Wind vom Meer,
den Wind, der nach Kindheit roch.
Nach einer Stunde hatte sie die Abzweigung erreicht.
Im Rückspiegel sah sie auf dem Schotterweg, der zum Haus hinaufführte,
den Staub wirbeln und wusste, dass alles war, wie es sein sollte. Sie
war heimgekehrt.
Es war ein altertümliches Anwesen, das niedrige Zweifamilienhaus
lag im Schutz alter Apfelbäume und glatter Felsplatten. Es war jetzt
seit fünfzehn Jahren in ihrem Besitz, und obwohl die Familie keine
Wurzeln in dieser Gegend hatte, war es zu ihrem Mittelpunkt geworden hier
fühlten sie sich alle mehr zu Hause als irgendwo sonst.
Sie stieg aus dem Auto und räkelte sich in der warmen Sonne wie eine
Katze Im niederen Gras fochten die Buschwindröschen zum Brunnen hin
weiße Klöppelspitzen und noch bevor sie die Tür aufschloss,
hatte sie einen Strauß gepflückt und ihre Nase hineingesteckt.
Auch die Blumen rochen, wie es sich gehörte, nach Erde und Wasser,
Vorjahrestod und neuem Leben.
Und, wie das Meer, nach Kindheit.
Aber der Blumenduft vermittelte auch Schmerz, und einen Augenblick lang
sah sie die beiden vor sich, zwei kleine Mädchen am Buschwindröschenhang,
dem Meer zugekehrt, in einer anderen, weit zurückliegenden Zeit.
Sie hatte Mühe mit dem Schloss, der Kolben schien dem Schlüssel
nicht nachgeben zu wollen. Doch dann glitt die Tür auf, und sie stand
auf der Schwelle und hörte die Fliegen summen. Während sie von
Raum zu Raum ging, fühlte sie die Wärme, es war hier drinnen
viel wärmer als draußen. Sie öffnete die Fenster und sah
den Fliegen nach, die dem Wald und dem Abort zustrebten.
Sie hatte einen Kanister Wasser im Auto, konnte sich also Kaffee machen,
ohne vorher die Brunnenpumpe in Betrieb nehmen zu müssen. Niklas
hatte an das Wasser gedacht und war damit hinter ihr hergelaufen, als
sie zu Hause schon aus der Garage gefahren war. Wie immer hatte seine
Fürsorge sie irritiert, und wie immer hatte sie sich deswegen geschämt.
Im Schrank des blauen Zimmers stand die Vase aus Pressglas, die gerade
so groß war, dass man sie mit der Hand umfassen konnte. Sie gehörte
zu den wenigen Dingen, die noch aus ihrer Kindheit stammten, und als sie
Wasser einfüllte, konnte sie wieder die beiden kleinen Mädchen
sehen, die der Mutter ihre Sträuße überreichten. Sie sah
die Küche, die Vase aus dem Küchenschrank, die unter dem Kaltwasserhahn
über dem Zinkbecken gefüllt wurde, sah das Lächeln der
Mutter.
Eine kleine Vase und zwei Sträuße Buschwindröschen.
Heute kommen die Dinge auf mich zu, dachte sie, drückte es dann aber
anders aus: Heute bin ich offen, schrankenlos. Das ist schön, sagte
sie sich, und sah die dotterblumengelben Flickenteppiche im Schein der
Sonne leuchten.
Voll Vorfreude füllte sie den Kühlschrank. Ein Kilo Krabben,
es war der reine Luxus, aber sie konnte Karins Lächeln sehen, das
ihr verschlossenes Mädchengesicht aufhellen würde, wenn sie
am nächsten Tag den Tisch deckten. Kalbsfilet, nun ja, sie hatte
es sich
etwas kosten lassen. Erdbeeren, echter Wahnsinn, und alle würdet
sagen, dass sie längst nicht so gut schmeckten wie die schwedischen.
Bei den jungen Kartoffeln von den Kanarischen Inseln hatte sie sich beherrscht,
Bintje in den schwarzen Wintertüten taten es auch, und vielleicht
würde sie sie im Ofen garen, um das Willkommensessen noch festlicher
zu gestalten.
Einstweilen begnügte sie sich mit Filterkaffee und zwei Scheiben
Weißbrot mit Käse und Leberwurst. Bei der zweiten Tasse Kaffee
schnitt sie sich noch eine Brotscheibe ab, bestrich sie dünn mit
Marmelade und dachte, das muss bis heute Abend reichen.
Eigentlich sollte sie jetzt ihre Kleider auspacken, sollte nach oben gehen,
lüften, die Betten machen. Und den Arbeitstisch abräumen, um
für die Schreibmaschine und alle ihre Aufzeichnungen von der Griechenlandreise
Platz zu schaffen. Das war ja der eigentliche Grund, warum sie vorausgefahren
war, sie wollte sich für einen Tag hier verschanzen, um auszuwählen
und zu planen.
Aber Sofia und ihr Dorf waren so weit weg, und sie selbst hatte hier alles,
was sie an Nähe brauchte.
Wie ein Kind, dachte sie, als sie sich auf dem Sofa in der Kammer ausstreckte
und einschlief, ohne sich vom Surren der Fliegen stören zu lassen.
Die Sonne weckte sie eine Stunde später auf, ein hartnäckiger
Sonnenstrahl kitzelte sie in der Nase und färbte ihre Augenlider
innen rosa. Ich sollte mich schämen, dachte sie, stellte aber durchaus
zufrieden fest, dass sie sich nicht schämte, ganz im Gegenteil. Sie
war zufrieden mit dem Tag, mit der Sonne, dem Fliegengesurr und der Freiheit.
Lieber Himmel, wie selten hatte sie einen Tag ganz für sich alleine.
Sie ging zum Pinkeln hinters Haus, hockte dort im Gras und hörte
den Kuckuck im Wald rufen. Und vielleicht war es sein Lockruf, der ihre
Sehnsucht nach den weichen Waldpfaden und den dunklen Bäumen weckte.
Denn schon wenige Minuten später war sie in ihrem alten Pullover
und mit Gummistiefeln an den Füßen unterwegs. Den ganzen langen
Einödweg konnte sie sich nicht gönnen sie musste Maß halten,
obwohl sie gerne nachgesehen hätte, was in diesem Frühjahr drüben
in der Lichtung auf dem Erbsenfeld angebaut worden war.
Ich mache die kleine Runde, dachte sie, und ganz von selbst fanden ihre
Füße den Weg in die Kühle unter den hohen Bäumen.
Genau nach Westen ging es, bei den Lärchen, die schon hellgrüne
Spießchen zeigten, steil bergauf und dann zur von Unkraut überwucherten
Ruine der alten Kate mitten am Hang. Sie lag geschützt an der Südseite,
und wie erwartet blühten am Zaun schon die Schlehen.
Schließlich ging der Steig in den Waldweg über, dem sie eine
Weile folgte, um dann die Richtung zu den Bergen im Norden einzuschlagen.
Unter den Füßen wurde es trockener, es gab immer mehr Krüppelkiefern,
das Moos staubte. Aber die Buschwindröschen begleiteten sie auch
hier, und ohne viel nachzudenken pflückte sie noch einen Strauß.
Dort wo der Wald aufgab, wo der Boden sogar für den anspruchslosen
Wacholder zu karg war, hörte sie den Elch. Sie war ihm schon früher
hier begegnet, wusste, dass er nachmittags über den Berg wechselte,
sie blieb stehen, versuchte sich unsichtbar zu machen. Aber dieses Mal
bekam sie ihn nicht zu sehen, hörte nur das Knacken, als er kehrtmachte
und wieder dem dichten Wald zustrebte.
Er hat meine Witterung aufgenommen.
Sie überquerte den Bergkamm und sah rechter Hand unten, wo der Boden
den Bäumen wieder Halt gab, das Föhrenwäldchen und an dessen
Rand einige hochstämmige Nadelbäume und eine ausladende alte
Fichte. Dort hatte sie letzten Sommer Pfifferlinge gefunden.
Buchtipp |
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Jetzt glaubte sie im Laub unter der Fichte eine Hand zu erkennen.
Aber noch lebte sie in der vibrierenden Wirklichkeit dieses Frühlingstages
und dachte, es wäre ein früher, ungewöhnlich weißer
Mairitterling.
Dann hörte die Welt auf zu vibrieren, ihr Körper hörte
auf zu fühlen und zu reagieren. Wie eine Aufziehpuppe ging sie auf
die Fichte zu, kniete sich hin, sah die Tote an, war sich bewusst, dass
niemand mehr etwas für sie tun konnte und dass die merkwürdige
Schmiere am Hinterkopf Gehirnmasse und Blut war.
Das Gesicht.
Sie stand auf, eigenartig kalt und entschlossen. Sie wusste, dass der
kürzeste Weg nach Hause geradeaus ging, den Steig hinunter, dann
links hinauf zum Haus.
Noch nie waren ihre Schritte so zielbewusst gewesen, sie sah nichts mehr,
hörte nichts, dachte nicht. Erst als das Haus zwischen den Bäumen
zu sehen war, kam ihr ein Gedanke: Vollbracht, endlich vollbracht.
Und: Ich darf nicht wahnsinnig werden.
Sie hatte den Türschlüssel in der Tasche, die Autoschlüssel
waren im Schrank in der Kammer, die Brieftasche mit dem Führerschein
ebenso. Als sie durch die Küche zurückging, blieb sie einen
Moment in der Waschecke hinter der spanischen Wand stehen, fuhr sich mit
einem Kamm durchs schwarze Haar, griff nach einem alten Lippenstift und
gab ihrem Mund Kontur. Sie zitterte nicht, sie war ganz ruhig.
Aber sie schaute nicht in den Spiegel, der über der Waschschüssel
hing.
Sie schloss das Haus ab, setzte mit dem Wagen zurück, wendete und
fuhr los.
Nach Mjölby. Zur Polizeistation? Als die Ampel am Eisenbahnviadukt
auf Rot stand, erkundigte sie sich ganz sachlich bei einem Radfahrer nach
dem Weg. Er sagte, die Polizei habe neue Räume gegenüber dem
Vergnügungslokal Kvarnen bezogen, und im selben Augenblick wusste
sie, dass ihr das Staatswappen mit den drei Kronen schon öfter aufgefallen
war.
Sie sah, dass die Sonne brannte und dass die Leute Jacken und Mäntel
abgelegt hatten, und fand es merkwürdig, dass sie fror, dass ihre
Finger abstarben und sie das Lenkrad kaum im Griff hatte.
Vielen Dank an den Fischer Taschenbuch Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis. |