Rebecka Edgren Aldén - Die achte Todsünde
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Rebecka Edgren Aldén - Die achte Todsünde
 
Rebecka Edgren Aldén - Die achte Todsünde
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Gebundene Ausgabe
288 Seiten
Goldmann Verlag
Erscheinungsdatum:
Februar 2003
ISBN: 3442310113
Übersetzung:
Kerstin Schöps
Originaltitel:
"Försvinnanden"
Kurzbeschreibung:

An einem lauen Samstagabend im Juli 1972 verlässt die 19-jährige Anna-Greta Sjödin das Haus ihrer Eltern und fährt mit Freunden in einen Vergnügungspark. Doch von diesem Ausflug kehrt das Mädchen nie mehr zurück. Es gibt keinen Abschiedsbrief, keinen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort - und auch keine Leiche. Immer neue Gerüchte gehen in dem kleinen Ort Bräcke um, denn niemand weiß, was sich in der dunklen Abgeschiedenheit der nordschwedischen Wälder wirklich abgespielt hat. Schließlich wird die Suchaktion eingestellt. Bis beinahe dreißig Jahre später der Stockholmer Journalist John Nielsen beschließt, zusammen mit dem ortsansässigen Polizisten Olle Ivarsson den Fall von neuem aufzurollen. Was Nielsen nicht ahnt ist, dass er bei seinen Nachforschungen selbst von einem unheimlichen Unbekannten beobachtet wird. Ein nervenaufreibendes Katz-und-Maus-Spiel beginnt, bei dem Nielsen plötzlich vom Jäger zum Gejagten wird, zum Spielball eines unberechenbaren und gefährlichen Gegenspielers ...

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Leseprobe

Eine alte Geschichte

Er hatte sich durch das Gebüsch am Wegesrand gezwängt und gerade einen halben Schritt auf den Weg getan, als er das Auto und die Männer sah. Einer von ihnen stand ihm zugewandt. Er erkannte ihn sofort wieder, ließ den Plastiksack fallen, drehte sich um und begann zu rennen.
»Hol dir den Dreckskerl! Ihm nach, verdammt noch mal!«
Er warf einen Blick über die Schulter. Er hatte etwa fünfundzwanzig Meter Vorsprung, erkannte jedoch, dass dies niemals ausreichen würde. Sein Verfolger war um die dreißig und lief mit weit ausholenden Schritten. Hastig zerrte er seine Kapuze aus der Trainingsjacke hervor und zog sie sich im Lauf über den Kopf. Sie hatten also auf ihn gewartet. Er war nicht sonderlich überrascht, aber er hatte etwas anderes im Sinn gehabt.

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Buchvorstellungen
Leseprobe

Kurz vor der Ortschaft war er abgebogen und nach Norden gefahren. Zuerst einige Kilometer lang auf rissigem Asphalt, dann weiter auf einem Waldweg, der geradewegs nach Osten führte. Der Weg war wohl erst vor kurzem angelegt worden. Damals hatte es ihn noch nicht gegeben. Die alte Landstraße verlief näher am See entlang. Als der Weg hinauf zu dem lang gestreckten Bergrücken anstieg, hielt er kurz an, kurbelte das Fenster herunter und blickte hinaus. Zu seiner Linken, in einigen Kilometern Entfernung, lagen der längliche See und dahinter ein paar Häuser und Felder. Er warf einen Blick auf die Karte auf dem Beifahrersitz. Hundegebell ließ ihn plötzlich aufsehen. Er nahm das Fernglas aus dem Handschuhfach, setzte es an. Aus einem der Schornsteine stieg Rauch auf, er fixierte die Stelle. Registrierte das Auto vor dem Haus. Und den Hundezwinger, in dem er den hartnäckig bellenden Hund erkennen konnte. Dann legte er das Fernglas beiseite und fuhr weiter. Nach einer Weile überquerte er den Fluss. Es gab kein Brückengeländer, das verraten hätte, dass er dort verlief, nur ein Rohr, das in den Weg eingebettet war und den Wagen beim Befahren hochspringen ließ. Zwei leichte Stöße. Im Rückspiegel sah er das Funkeln des Wassers und einen Vorhang aus wildem Buschwerk am Ufer. Er müsste größer sein, dachte er. Aber er wusste, dass er sich nicht irren konnte. Es gab keinen anderen Flusslauf in der Nähe. Er hielt nicht an, sondern fuhr in gleichmäßigem Tempo weiter. Nach anderthalb Kilometern tauchte ein Haus auf. Mit schnellem Blick musterte er das Gebäude, während er daran vorbeifuhr. Ein Neubau, noch immer lagen einige Erdhaufen am Sockel des Fundaments. Einfach. Einstöckig, schlichtes Bauholz. Eine Jagdhütte. Der Schatten eines Fahrzeuges auf der Rückseite des Hauses. Doch es schienen keine Menschen dort zu sein. Er fuhr noch einige Kilometer weiter, bevor er an einem Wendeplatz anhielt, den Motor abstellte und ausstieg. Einen Moment blieb er still stehen, lauschte. Dann machte er ein, zwei Schritte, nahm seine Zigarettenschachtel aus der Tasche und zündete sich eine Zigarette an, konzentrierte sich darauf, dass seine Bewegungen natürlich wirkten. Er rauchte ausschließlich, wenn er der Meinung war, dass es einem Zweck dienen könnte, wenn es ihn mit seiner Umgebung verschmelzen ließ, seiner Anwesenheit eine Art Legitimation verschaffte. Wie in diesem Augenblick. Er war einfach jemand, der seinen Wagen anhielt, um sich die Beine zu vertreten, jemand, der sich eine Zigarette ansteckte und die Aussicht genoss. Er spielte diese Rolle. Schlenderte eine Weile umher, streckte und dehnte sich, ließ den Blick über die Landschaft wandern. Es war Ende September. Eisblauer Himmel. Der Wind hatte zugenommen. Dünne Wolkenschatten jagten über den Bergrücken im Norden. Auf beiden Seiten des Weges erstreckte sich kilometerlanger Kahlschlag. Er blieb stehen, mit halb geschlossenen Augen, spürte die kühle Luft auf seinem Gesicht, sah, wie sich die jungen Zapfenkiefern auf den kahlen Flächen im Wind bogen. Schließlich ließ er die Zigarette fallen, trat sie aus und vergrub sie sorgfältig im Kies. Mit schnellen Schritten ging er zurück zum Wagen und fuhr denselben Weg zurück. Als er das Haus erneut passierte, ging er vom Gas und heftete seinen Blick auf das Gebäude. Das Auto hinter dem Haus stand noch immer dort, doch weiterhin war kein Mensch zu sehen, kein Lebenszeichen weit und breit. Er fuhr wieder schneller. Beim Fluss bremste er. Er entdeckte Reifenspuren, die vom Weg abzweigten, und hielt an. Einen Augenblick saß er ruhig im Wagen, betrachtete die Umgebung, versuchte sich daran zu erinnern, wie es damals ausgesehen hatte. Dichter Fichtenwald. Sie waren den Fluss entlanggekommen. Waren von der alten Landstraße abgebogen und dem Waldweg gefolgt, der parallel zum Wasser verlief. Das graue Licht dieser Nacht. Etwas Fiebriges, Aufreizendes hatte in der Luft gelegen. Ein Gefühl, als würden sie sich schwebend, gleichsam tanzend bewegen. Und er hatte bereits gewusst, was geschehen würde. Dann öffnete er die Tür und stieg aus. Von nun an war jede seiner Bewegungen zielsicher, genau berechnet. Er ging um das Auto herum, öffnete den Kofferraum, nahm den Plastiksack heraus und faltete ihn zu einem rechteckigen Paket zusammen, das in seine Jackentasche passte. Den klappbaren Spaten steckte er unter den Gürtel, dann zog er die Jacke an. Das Klebeband stopfte er in die andere Jackentasche. Er drehte sich um und überquerte den Weg. Einen Moment lang dachte er, er habe Motorengeräusche gehört, doch das hinderte ihn nicht. Ein schmales Band aus Bäumen entlang des Flussufers war stehen geblieben. Nach Westen breiteten sich die kahl geschlagenen Flächen aus. Er ging am unteren Saum eines Kahlschlags, der etwa ein Jahr alt war. Seine Bewegungen waren geschmeidig und schnell. Nach ungefähr einem halben Kilometer wurde er langsamer, inspizierte den Abhang hinunter zum Fluss. Er erinnerte sich wieder genau. Dort wo sich der Uferbereich ein wenig lichtete, eine ebenere Stelle bildete, verharrte er, suchte die Gegend mit den Augen ab. Plötzlich lachte er laut auf. Kein Mensch war hier gewesen. Auch aus dieser Entfernung war er sich so gut wie sicher. Er lief hinunter zum Fluss, schob sich durch den lichten Birkenwald und das Weidengebüsch, bis er die Stelle erreichte, auf der weder Birke noch Weide richtig Halt finden konnten. Er ging einige Schritte, bevor er die Bodenerhebung entdeckte. Mit dem Fuß schob er das Seggegras und die Steine darunter weg. Dann zog er den Spaten hervor, klappte ihn auseinander und schaufelte die Erde beiseite. Es dauerte ungefähr zwanzig Minuten, das gesamte Skelett freizulegen. Er richtete sich auf, betrachtete es einen Augenblick lang, drehte den Spaten in den Händen, hob ihn hoch und zerteilte mit einem schnellen Stoß die Wirbelsäule, kurz über dem Becken. Dann trennte er den Schädel von den Nackenwirbeln, die Arme von den Schulterblättern. Er trat einen Schritt zurück, stellte sich breitbeinig über die Grube, hob den Spaten und stieß einige Male zu, bis er den Hüftknochen vom Becken getrennt hatte, tat einen weiteren Schritt zurück und halbierte mit einem präzisen Hieb beide Beine auf Höhe der Kniegelenke. Er strich sich ein paar Schweißtropfen aus der Stirn. Dann trat er zur Seite, holte den Plastiksack aus der Tasche, faltete ihn auseinander und begann systematisch, die einzelnen Skelettteile einzusammeln. Den Brustkorb zertrümmerte er mit Tritten, bevor er ihn in den Sack stopfte. Er warf einen Blick auf die Uhr. Zehn vor zwölf. Knapp eine Stunde war es her, seit er den Wagen verlassen hatte. Er durfte sich nicht zu lange hier aufhalten, dachte er, nicht dieses Mal. Dennoch hielt er kurz inne und sah mit suchendem Blick hinauf zu der spitzen Bergkuppe hinter ihm.
Plötzlich konnte er ihre Stimme wieder hören. Sie schien von einer Stelle seines Zwerchfelles aufzusteigen. Ein wütender, gequälter Aufschrei. Röchelnd, brodelnd, wie nach einem Hustenanfall. Du darfst nicht gehen! Du darfst nicht! Er erstarrte. Ich komme doch wieder, ich habe dich noch nie im Stich gelassen, versuchte er zu sagen, aber sie unterbrach ihn erneut mit einem erstickten Schrei: Nein! Du darfst nicht gehen! Komm zu mir!


Buchtipp
Camilla Läckberg - Die Eishexe: Kriminalroman (Ein Falck-Hedström-Krimi 10)

Etwas in ihm begann zu zucken, unkontrolliert. Er konnte ihre übermächtige, vernichtende Kraft spüren. Für einen Moment wusste er, dass er nicht umhinkam, ihr zu gehorchen. Dann atmete er tief ein, schloss die Augen und zwang ihre Stimme in sich nieder, Stück um Stück, während ihm der Schweiß übers Gesicht lief.Jetzt war er der Stärkere. Der Stärkere und der Ältere. Er war derjenige, der entscheiden musste, was für sie beide das Beste war. Ich komme bald zurück, flüsterte er mit milder, tröstender Stimme, als würde er mit einem Kind sprechen. Ich werde dich niemals im Stich lassen. Ich komme zurück. Ich habe es doch versprochen. Er lauschte. Nichts. Sie war still, als hätten seine Worte sie zum Schweigen gebracht. Nur einer der Männer war ihm gefolgt. Er bemühte sich erst gar nicht, schneller zu werden. Im Gegenteil, er verlangsamte das Tempo, wartete darauf, dass der Mann zu ihm aufschließen würde.
»So, du Dreckskerl!«
Er spürte den Würgegriff am Hals, als sein Verfolger ihn von hinten packte. Abrupt blieb er stehen, entspannte seinen Körper, ließ ihn beinahe kraftlos, ohne Kontrolle wirken. Er wartete so lange, bis er spürte, dass der Druck nachließ, ergriff dann das Handgelenk des anderen, riss den Arm nach oben, tauchte gleichzeitig unter seinen Armen hindurch und zwang ihn so auf die Zehenspitzen. Er ließ ihn eine trippelnde Pirouette ausführen, den Arm auf den Rücken gedreht. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, ehe er mit einem festen Ruck wieder an ihm riss, sodass das Schultergelenk des Mannes mit einem dumpfen Geräusch zerbarst. Erst da löste er den Griff, ließ ihn rücklings zu Boden stürzen, erst da hörte er den gequälten Schmerzensschrei, der den Lippen seines Opfers entwich. Er drehte sich um, setzte seinen Fuß auf das Becken des Liegenden und trat mit aller Kraft zu. Der Schrei brach abrupt ab, nur ein halb ersticktes Wimmern war zu vernehmen. Er starrte hinunter auf den Mann, zielte und trat zu, sah, wie sein Kopf zur Seite fiel und er völlig verstummte. Dann lief er weiter. Verließ den Kahlschlag und rannte Richtung Fluss, bis er vom Weg aus nicht mehr zu sehen war. Erneut hielt er an, kehrte um und stieg die Anhöhe hinauf, jetzt ganz gemächlich. Als er den Weg wieder sehen konnte, ging er in die Hocke und zog sein Fernglas aus der Tasche. Die beiden anderen Männer hatten ihren Kameraden gefunden. Er beobachtete, wie sie sich zu ihm hinunterbeugten und ihn halb schleifend, halb tragend zum Weg schleppten. Als sie es schließlich geschafft hatten, ihn auf den Rücksitz zu legen, kehrte der eine zurück und holte den Plastiksack. Auch auf diese Entfernung konnte er seine Reaktion ablesen, als er ihn öffnete: Unverhohlenes Erstaunen ließ den Mann für einen Moment wie gelähmt erscheinen. Er senkte sein Fernglas und lachte leise in sich hinein. Er wartete, bis er den Wagen davonfahren sah. Zuvor hatte er beobachtet, wie die Männer die Motorhaube von dem Mazda aufbrachen, mit dem er gekommen war, und den Verteilerkopf herausrissen. Da er etwas Ähnliches erwartet hatte, zeigte er keinerlei Regung. Er dachte nach. Das Wichtigste war nun, in den Besitz eines Autos zu kommen. Nach seinen Berechnungen hatte er ungefähr eine Stunde Zeit. Er versuchte auszurechnen, wie weit es bis zum anderen Ende des Sees war. Dann erhob er sich, warf das Fernglas von sich und den Spaten, der noch in seinem Gürtel gesteckt hatte. Auch den Pullover zog er aus, behielt nur die Jacke an. Es kostete ihn eine gute halbe Stunde, ehe er die Kreuzung, die zu den Häusern führte, erreichte. Er schwitzte, aber seine Atmung war unverändert ruhig. Er lief mit gleichmäßigen, weit ausholenden Schritten, vermied es, seine Kräfte zu verschwenden. Kein Auto weit und breit. Als er in die Auffahrt bog, erhöhte er seine Geschwindigkeit, richtete sich darauf ein, die letzten Meter so schnell wie möglich zurückzulegen. Schon von weitem konnte er das Hundegebell hören. Als das Haus vor ihm auftauchte, wurde er wieder langsamer und ließ seinen Blick über das Gehöft schweifen. Der Wagen stand noch da. Im Zwinger sprang ein großer Hofhund umher, wütend bellend. Neben dem Haus befanden sich ein umgegrabener Kartoffelacker sowie einige Reihen Beerensträucher. Er nahm den Weg quer über den Acker. Das Gebell des Hundes wurde immer lauter, und noch ehe er den Hof erreicht hatte, sah er, wie die Haustür aufging und ein Mann auf die Treppe trat. Er lief geduckt weiter und zog dabei wieder seine Kapuze aus der Jacke und über den Kopf. Mit wenigen Sprüngen war er vorne an der Treppe. Der Mann hatte sich bereits wieder umgedreht und versuchte ins Haus zu flüchten. Er aber hatte ihn bereits an den Schultern gepackt und zu Boden gerissen, die Hand auf seinen Kehlkopf gepresst. Der Mann schnappte pfeifend nach Luft und zitterte am ganzen Leib, sodass er seinen Griff etwas lockerte und sich tief zu ihm hinunterbeugte.
»Den Wagen«, zischte er. »Die Schlüssel für den Wagen!«
Der Mann starrte ihn an, ohne ein Wort zu sagen.
»Die Schlüssel!«, fuhr er ihn erneut an.
Als der Mann die Augen schloss und seine trockenen Lippen zusammenpresste, ließ er ihn los und zog dafür sein Messer aus der Jackentasche. Die Spitze der Klinge senkte er zum Augenlid, hob es hoch und erhöhte langsam den Druck auf den oberen Rand der Augenhöhle, bis ein kleines Rinnsal von Blut heraussickerte.
»Genau hier«, sagte er mit leiser Stimme. »Von hier aus geht's direkt ins Gehirn. Vorsichtig, man kann jeden Millimeter spüren...«
Die Augen des Mannes waren vor Angst weit aufgerissen.
»Sie stecken! Sie sind im Wagen, zum Teufel!«
Er ließ das Messer noch einen Augenblick an derselben Stelle verweilen, bevor er es wegnahm. Er sah, wie sich das Blut im Auge sammelte und die Wange hinunterrann. Dann erhob er sich, warf den Mann auf den Bauch, drehte seine Arme auf den Rücken, fingerte das Klebeband aus seiner Tasche und wickelte es einige Male um Hände und Handgelenke. Mit den Beinen verfuhr er auf die gleiche Weise.
Der Hund im Zwinger hörte nicht auf zu bellen. Er warf einen Blick hinüber zu den zwei benachbarten Häusern, die nur wenige hundert Meter entfernt standen. Unbewohnt. Vernagelte Fenster, die Hofeinfahrten zugewachsen. Er machte einen Schritt über den Gefesselten und ging hinein ins Haus. Das Telefon stand im Flur, er riss den Hörer ab und warf ihn in die Ecke. Dann begann er seinen Rundgang. Eine Küche. Ein Wohnzimmer, sparsam möbliert. Durch die angelehnte Tür des Schlafzimmers sah er das Einzelbett, das ihm bestätigte, was er sich schon gedacht hatte: dass der alte Mann hier alleine wohnte.
Er schloss die Tür mit einem Gefühl großen Unbehagens, ein Gefühl, das ihn immer dann befiel, wenn er zu nahe mit dem Leben anderer Menschen in Berührung kam. Fotografien, Schmuck, Erinnerungen, Kleider. Alles, was ein intimes, vertrautes Zeugnis von ihnen ablegen konnte. Und die Gerüche, ihre Gerüche, die überall waren, überall klebten und hängenblieben...

Er drehte sich um und ging eilig nach draußen. Der Mann lag unverändert in derselben Stellung. Einen Augenblick erwog er, auch seinen Mund zu verkleben. Als er jedoch den ruckartigen, angestrengten Atem hörte, entschied er sich anders. Wie alt mochte er sein? Siebzig, fünfundsiebzig? Er würde das womöglich nicht überleben, und von seinem Tod hatte er keinerlei Nutzen. Er beugte sich zu ihm hinunter, packte ihn an seiner Kleidung und zerrte ihn in den engen Flur. Dort ließ er ihn fallen und wischte sich die Hände an der Hose ab. Dann machte er einen Schritt nach hinten, holte aus und trat ihm kräftig in die Seite.
»Verdammter alter Sack! Sei froh, dass du noch lebst, du Arsch! Sag bloß keinem ein Wort, sonst wirst du es bitter bereuen...«
Er flüsterte nun nicht mehr, sondern ließ seine Stimme absichtlich lauter, derber und brutaler werden, versuchte sie gewalttätig und unbeherrscht klingen zu lassen. Er versetzte dem Alten noch einen Tritt und hörte, wie dieser in einer Mischung aus Angst und Schmerz aufheulte, ehe er hinausging und die Tür hinter sich schloss.
In Ånge bog er ab, fuhr ins Landesinnere Richtung Süden. Es waren kaum Autos unterwegs. Keine Polizeiwagen. Wahrscheinlich würde es Stunden dauern, bevor eine Fahndung herausgegeben werden würde. Er fuhr gemächlich, nie zu schnell. Er war gelassen und ruhig, beobachtete aber dennoch genau den Verkehr.
In regelmäßigen Abständen kehrte er in Gedanken zu der Szene am Kahlschlag zurück, ließ sie vor seinem inneren Auge Revue passieren, Moment für Moment. Eigentlich war das alles ein großer Glücksfall gewesen, ein Zusammenspiel von Zufällen. Dennoch hatte er das Gefühl, dass dahinter noch etwas anderes stand. Ein Muster. Eine Kraft. Ein Wille. Sie hatte nach ihm gerufen. Hatte ihn zu sich zurückgerufen. Sie hatte nicht vor, ihn freizugeben.

Das Gesicht von Kennet Eriksson tauchte vor ihm auf. Sein schwerfälliges, grübelndes Erstaunen. Woran konnte er sich erinnern? Was begriff er von der ganzen Sache überhaupt?

Danke an den Goldmann Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.

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