Leseprobe
Der erste Nachtfrost des Jahres überzieht den
Donnerstagmorgen mit einer weißen Puderschicht und bringt eine
Vorahnung von Winter. Die Luft in den Lungen fühlt sich kalt an,
und der Atem gefriert zu einer Wolke. Die Kälte kommt jedes Jahr
überraschend. Keine Handschuhe, der Eiskratzer verschwunden. Man
benutzt eine Kassette, um die Windschutzscheibe frei zu bekommen, während
Anton auf der Rückbank in seinem Kindersitz zittert.
"Mach die Heizung an, Mama!"
"Sie ist voll aufgedreht." Mit Fingern steif wie Eiszapfen
setzt sie sich ans Steuer. Sie braucht eine Viertelstunde, um zuerst
zum Kindergarten und dann zur Arbeit zu fahren. Vom Hof Hallsered nach
Sundsby.
Kein Arbeitstag ist wie der andere, aber es gibt eine gewisse Routine.
Dazu gehört die Telefonsprechstunde der Kreiskrankenschwester zwischen
acht und neun. Heute ist Man ein paar Minuten zu spät und hört
bereits auf dem Flur das Telefon in ihrem Büro klingeln. Sie nimmt
den ersten Anruf entgegen, während sie sich gleichzeitig die Jacke
auszieht und den Computer einschaltet. Es ist die Zeit der Erkältungen.
Man gibt Ratschläge zu Nasentropfen und Fieber senkenden
Mitteln und vereinbart ein paar Termine bei den Ärzten, bevor Vera
anruft.
"Hallo, Vera! Wie geht es dir?"
"Ja, wie immer. Die üblichen Schmerzen eben, nichts weiter."
Die Stimme klingt ängstlich. Abwartend.
"Kann ich etwas für dich tun?" Man klemmt sich den Hörer
zwischen Wange und Schulter und öffnet die Tagespost.
"Es geht um Bengt", sagt Vera. "Könntest du nicht
vielleicht vorbeikommen?"
Man legt eine Einladung zu einer Ethik-Vorlesung beiseite. Sie hört
den flehenden Ton am anderen Ende der Leitung. "Ich kann nach meiner
Ambulanz-Sprechstunde kommen. Gegen halb elf. Ist das in Ordnung?"
"Das wäre nett von dir. Ich bin so unruhig."
"Dann sehen wir uns nachher. Bis dann." Es ist unnötig
zu fragen, worum es geht. Wenn die Sache nicht am Telefon geregelt werden
kann, besteht kein Grund, Gefühle zu wecken, mit denen sie sich
im Moment ohnehin nicht auseinandersetzen könnte.
Vera gehört zu denjenigen ihrer Patienten, die viel Aufmerksamkeit
verlangen. In der Kindheit an Polio erkrankt und infolgedessen so geschädigt,
dass sie schon mit fünf zig Jahren an den Rollstuhl gefesselt war.
Schmerzen, die schwer zu behandeln sind. Seit über dreißig
Jahren Witwe. Ein drogenabhängiger Sohn. Es ist nicht das erste
Mal, dass Vera anruft und Man bittet zu kommen, und als sie an diesem
Tag Veras Haus betritt, denkt Man, dass es so wenig gibt, was sie tun
kann. Nur da sein. Zuhören.
Vera ist in der Küche im Erdgeschoss. Es ist unaufgeräumt.
Man sieht, dass jemand sich bemüht, Ordnung zu halten, aber nicht
ganz zurechtkommt. Alte Zeitungen, die sich auf der Bank am Fenster
stapeln, ein Haufen Kleider auf einem Küchenstuhl, Gardinen, die
vermutlich seit zehn Jahren nicht
gewaschen worden sind, die Katzenschüssel auf einem schmutzigen
Pappkarton am Boden und auf dem Teppich verstreutes Trockenfutter und
Milch, die ausgelaufen und eingetrocknet ist.
Vera hat den Rollstuhl an die behindertengerechte Spülbank gerückt
und schält Kartoffeln, aber als Man hereinkommt, dreht sie den
Wasserhahn zu und lässt das Schälmesser in die Spüle
fallen. Sie rollt zum Tisch, nimmt die Brille ab und legt sie vor sich
hin. Die Augen sind vom Weinen gerötet, das Gesicht geschwollen.
Sie hat lange Haare, schwarz mit grauweißen Strähnen, im
Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden. Man betrachtet die Falten auf
Wangen und Stirn, um so lange wie möglich Veras angsterfüllten
Augen auszuweichen.
Im Radio, das auf dem Küchentisch steht, singt ein Chor Großer
Gott. Man schaltet es aus. "Was ist los, Vera?", fragt sie
und beobachtet die Träne, die aus Veras rechtem Augenwinkel auf
den Tisch zu fallen droht.
"Bengt. Er ist nicht nach Hause gekommen." "Er kommt
bestimmt bald, du wirst sehen."
"Da stimmt etwas nicht!" Vera zupft an einer Häkelarbeit
herum, die auf dem Tisch liegt. Sie wickelt das rote Garn von dem, was
einmal eine Weihnachtstischdecke werden soll, um den linken Zeigefinger.
"Ich habe Angst, dass ihm etwas passiert ist."
"Du weißt doch, dass er manchmal ein paar Tage weg ist."
Man könnte verschiedene Gelegenheiten aufzählen, bei denen
Bengt abgehauen war. Nach Malmö oder Kopenhagen. Ab und zu nach
Göteborg. Dann kam er high oder verkatert nach Hause zurück.
Er saß wegen Drogenbesitzes und wurde, soweit sie weiß -
in einem kleinen Loch wie Sundsby wird viel getratscht - auch
einmal wegen des Verdachts auf Rauschgifthandel verhaftet, aber aus
Mangel an Beweisen wieder freigelassen. Sein Verschwinden trifft Vera
immer hart. Eine krankhafte Unruhe lastet auf ihr, bis er zurückgekehrt
ist.
"Heute morgen lag ich wach und dachte daran, die Pflegerin zu bitten,
nach oben zu gehen und in sein Zimmer zu schauen. Dann habe ich es mir
anders überlegt. Und nun kommt sie nicht vor heute abend wieder."
Sie sieht Man flehend an.
"Selbstverständlich kann ich hoch gehen", sagt Man. "Aber
mir ist nicht klar, was ich da oben tun kann."
"Du kannst vielleicht nachschauen, ob jemand auf den Anrufbeantworter
gesprochen hat."
"Warum?"
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"Gestern Abend war Bengt unten zum Essen. Er sagte, er würde
später Besuch bekommen. Nachdem die Pflegerin mich kurz vor neun
ins Bett gebracht hatte und ich gerade schlafen wollte, meinte ich das
Telefon viermal läuten zu hören. Er geht nicht immer dran,
für den Fall, dass es jemand ist, mit dem er nicht sprechen will,
und dann springt der Anrufbeantworter nach dem vierten Klingeln an.
Ich dachte, dass er vielleicht mit jemandem weggegangen war."
Man fällt ein, dass Bengt weder einen Führerschein noch ein
Auto hat. "Hast du nicht gehört, ob jemand gekommen ist und
ihn abgeholt hat?"
"Ich muss Schlaftabletten nehmen, sonst kann ich nicht schlafen.
Wegen der Schmerzen, weißt du. Deshalb schlafe ich so tief. Aber
ich glaube, ich habe einen Schlag gehört."
"Dann machen wir es eben so", sagt Man. "Ich gehe nach
oben und schaue nach, und dann musst du versuchen, dich ein bisschen
zu beruhigen. Er ist schließlich erwachsen und für sich selbst
verantwortlich."
Die ältere Frau spielt mit dem Garn in ihren Händen, und Man
merkt, dass sie etwas Dummes, Unnötiges gesagt hat, denn Veras
neurotische Unruhe lässt sich nicht wegdiskutieren.
Die Treppe zum ersten Stock ist eng, und auch hier breitet sich der
Schmutz aus. Man hat nicht wie üblich die Schuhe ausgezogen und
spürt, wie sie an jeder Stufe hängen bleibt. Sie versucht,
möglichst nicht daran zu denken, was da so kleben könnte.
Oben auf dem Treppenabsatz steht eine Papiertüte mit Zeitungen,
und ein Haufen Schuhe liegt neben einem zusammengelegten Flickenteppich.
Hier oben gibt es zwei kleine Zimmer. In dem einen steht ein braungrün
gestreiftes Sofa hinter einem niedrigen Tisch aus dunklem Holz. Der
Tisch ist voller Glasabdrücke und Brandflecken von Zigaretten.
An einer Wand stehen ein Fernseher und eine Stereoanlage auf einer Bank.
Das Bett im Schlafzimmer ist ohne Laken und die Decke liegt zerknüllt
am Fußende. Auf einem Nachttisch steht der Anrufbeantworter. Er
blinkt. Man geht vorsichtig über den schmutzig grünen Teppichboden,
um nicht auf irgendetwas zu treten, und drückt auf Play. Der Anrufbeantworter
surrt beim Zurückspulen, knackt, und dann ist eine Stimme zu hören.
Nuschelnd, aber dennoch deutlich. "Hallo, ich bin es, Janne. Ich
komme nachher vorbei."
Man schaut sich im Zimmer um. Ein Stapel Pornozeitschriften liegt neben
der Heizung, und mit einem starken Gefühl von Abscheu und davon,
genug gesehen zu haben, beschließt sie, wieder hinunterzugehen.
Unmittelbar vor der Treppe befindet sich die Tür zum Badezimmer.
Aus einem Impuls heraus öffnet sie sie und bleibt mit der Hand
auf der Türklinke stehen.
Das winzige Fenster zur Linken, oberhalb der Badewanne, reflektiert
einen Sonnenstrahl im Spiegel über dem Waschbecken. Einen Moment
lang blendet er sie, und sie denkt, hier drinnen würde gerade gestrichen.
Man sieht, aber das Gehirn nimmt nicht auf, was die Augen ihr vermitteln.
Es dauert eine Weile, bis sie versteht, worauf sie schaut.
Danke an den Knaur Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis. |