Leseprobe
In meinem Wartezimmer saß ein Toter.
Es war Ende Oktober, und ich kam gerade von einem Auftrag zurück, der
mich nach Ølve geführt hatte, einen der Orte im Vestlandet, wo Gott
Perlen vor die Säue geworfen und sie nie wiedergefunden hatte. Dennoch
hatte man ihm erstaunlicherweise auch in Ølve eine Kirche errichtet,
wo der Pfarrer Sonntags manchmal zum Gottesdienst rief, wenn sein Tourneeplan
ihn in die Gegend verschlug. Mein Auftrag dort war eher akademischer
Natur gewesen. Es ging um irgendwelche Grenzpfähle, die irgendjemand
nachts versetzte. Ich hatte zwei Nächte in einem abgelegenen Kuhstall
verbracht, in der Hoffnung, den Täter auf frischer Tat zu ertappen.
Doch der Grund für die Pfahlmanipulationen hatte so tiefe Wurzeln in
der langen Familiengeschichte der beiden Nachbarhöfe, dass ich meinem
Auftraggeber vorschlug, sich stattdessen an den staatlichen Denkmalpfleger
zu wenden. Ich selbst begnügte mich mit dem Vorschuss, der auf der Rückfahrt
zumindest die Fährkosten von Våge nach Halhjem deckte.
Eine westnorwegische Herbstlandschaft im Regen ist nicht viele schöne
Worte wert. Heftige Stürme am Anfang des Monats hatten die meisten Blätter
von den Bäumen gefegt. Die Farben auf den Hügelkuppen zwischen Halhjem
und Ulven waren graubraun und verwaschen, und der Himmel hing wie eine
brüchige Hängematte über dem Ganzen. Ich hörte die Vormittagssendung
von NRK-Hordaland im Autoradio, die allerdings auch nicht dazu angetan
war, meine Stimmung zu heben. Zwischen fünf- und sechstausend Studenten
hatten gegen den Staatshaushalt demonstriert, und die Verwaltungsbüros
der Universität Bergen waren von studentischen Aktivisten besetzt worden.
In Bergen stritten sich die Politiker, ob sie die Vergabe der Schankrechte
ausdehnen sollten.
Als ich in die Stadt kam, beschloss ich, noch kurz ins Büro zu gehen
und den Anrufbeantworter abzuhören. Ich parkte in der Strandgaten, steckte
den nötigen Beitrag für die Stadtkasse in die Parkuhr und eilte durch
den Regen Fortunen hinunter und dann um die Ecke zum Strandkaien. Vor
der Tür der Hausnummer zwei hielt ich einen Moment inne und schüttelte
den grünen Südwester aus, rollte ihn zusammen und steckte ihn in die
Tasche. Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare, bevor ich in den
Fahrstuhl einstieg. Man konnte nie wissen. Vielleicht tauchte ja plötzlich
eine Journalistin aus Olesund auf.
Aus alter Gewohnheit öffnete ich die Tür zum Wartezimmer,
um von dort aus ins Büro zu gehen. In der Türöffnung blieb ich stehen.
Zum ersten Mal seit langer Zeit saß dort ein potentieller Klient. Doch
die Chance hatte ich verpasst, ehe ich überhaupt davon gewusst hatte.
Auf jeden Fall war ich nicht mit ihm verabredet gewesen. Ich hatte ihn
noch nie gesehen, und ich brauchte nicht lange, um festzustellen, dass
er tot war.
Das Wartezimmer war noch nie ein besonders gemütlicher Aufenthaltsort
gewesen. Hätte es nicht zum Büro gehört, hätte ich es niemals so lange
behalten. Die Wochenzeitschriften, die ich im Sommer 1975 vom vorherigen
Mieter geerbt hatte, waren mittlerweile so alt, dass sie jeden Tag im
Wert stiegen. Für den abgenutzten Teaktisch fürchtete ich das Gegenteil,
und die klassischen Wartezimmermöbel aus Chrom und moskaurotem Kunstleder
luden auch nicht gerade zu einem längeren Aufenthalt ein. So saßen dort
denn auch immer weniger Leute. Der tote Mann auf dem Sofa war seit vielen
Wochen der erste.
Es bestand kein Zweifel daran, dass er tot war. Sein Puls entsprach
dem einer Beethoven-Büste. Wer er war, damit wollte ich mich überhaupt
nicht befassen, jedenfalls nicht, bevor die Polizei dagewesen war. Was
konnte ich sonst tun? Es würde sicher sowieso kompliziert genug werden.
Ich rief sie auf dem Handy an, ohne den Toten aus den Augen zu lassen,
als hätte ich Angst, er könnte sich aus dem Staub machen. Sie sagten,
sie würden sofort ausrücken. Und es dauerte auch nicht lange, da hörte
ich sie draußen auf dem Korridor.
In der Zwischenzeit hatte ich mir den Mann etwas genauer angesehen.
Er war Anfang vierzig und von gewöhnlichem Aussehen, fast ein bisschen
farblos. Sein Gesicht war länglich und seine Kleidung alltäglich: weißes
Hemd, braune Hose, graues Jackett, aber kein Schlips. Sein Haar war
bräunlich fahl und dünn. Er saß schief auf dem roten Sofa, mit ausdruckslosem
Gesicht, als sei er von einem plötzlichen Einfall ergriffen worden und
eingenickt. Es gab keine äußeren Zeichen dafür, was seinen Tod verursacht
hatte.
Also wer war er? Und was machte er in meinem Wartezimmer?
Viel weiter kam ich nicht mit meinen Überlegungen, denn es klopfte laut
an der Tür. Ich öffnete sie, mit einem Taschentuch um den Griff.
Kommissar Jakob E. Hamre führte den Trupp an. »Ich dachte, ich rücke
lieber selber aus, als ich hörte, dass du angerufen hast, Veum«, sagte
er und ließ seinen Blick schnell durch den Raum hinter mir gleiten.
Draußen auf dem Korridor warteten Polizeiinspektorin Annemette Bergesen,
die Wachtmeister Bjarne Solheim und Arne Melvær und zwei weitere uniformierte
Beamte den Lauf der Dinge ab.
»Das Beste ist gerade gut genug für mich«, sagte ich und trat zur Seite.
»Ich weiß nicht, wie ihr den Tatort definieren wollt, aber .«
Hamre betrachtete den Toten auf dem Sofa grimmig. »Und du bist sicher,
dass er wirklich tot ist?«
»Ich habe bei Beerdigungen schon Lebendigere gesehen.«
»Ja, ja, unter den Hinterbliebenen ...«, murmelte er.
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Bergesen räusperte sich hinter ihm. Er sah entschuldigend in ihre Richtung
und sagte schnell: »Ja, wir müssen - genauer nachsehen, natürlich.«
Langsam betraten sie den Raum, abgesehen von den beiden Beamten, die
draußen Stellung bezogen. Weitere Klienten würde ich an diesem Tag wohl
nicht bekommen, fürchtete ich.
»Und du hast keine Ahnung, wann .?«
»Nein. Ich bin hier vor .« Ich sah auf die Uhr. »Ungefähr einer Viertelstunde
angekommen.«
»Und du weißt auch nicht, wer er ist?«
»Ich habe ihn noch nie gesehen.«
»Hm.«
Die vier Kriminalbeamten standen da und betrachteten den Toten mit unterschiedlicher
Miene. Hamre und Bergesen zeigten gemäßigtes Interesse; die Gesichter
der beiden jüngeren Beamten verrieten, dass sie sich in der Situation
weitaus unbehaglicher fühlten, besonders der junge Melvær. Er schluckte
und schluckte, als sei ihm etwas im Halse stecken geblieben. Solheims
Haare standen zu Berge, doch das lag an seiner Frisur und war kein Zeichen
von Erschütterung. Ich stellte fest, dass Hamre, obwohl er nur wenige
Jahre älter war als ich, deutlich grauere Haare bekommen hatte. Mit
sechzig würde er weiß sein. Annemette Bergesen sah hingegen unverschämt
gut aus, frisch verheiratet wie sie war - mit einem Biologen vom Institut
für Hochtechnologie in Bergen, wenn ich mich richtig erinnerte, und
immer noch braun gebrannt von einem späten Sommerurlaub, wenn sie nicht
sogar in einem exotischen Teil der Welt auf Hochzeitsreise gewesen war,
wie es zurzeit viele taten. Beate und ich waren damals nach Arendal
gefahren, und das war für uns damals schon exotisch genug gewesen.
Danke an den Fischer (Tb.)-Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis. |